Interview Anita Ferraris „In einer existentiellen und lebenslangen Metamorphose hat sie sich und ihre Kunst gewandelt“

,

Interview mit Anita Ferraris „In einer existentiellen und lebenslangen Metamorphose hat sie sich und ihre Kunst gewandelt“

DAV: Dein Vortrag über die Metamorphosen der Niki de Saint Phalle steht unter einem dramatischen Titel: „Von schwangeren Riesinnen und Bildern, die bluten…“. Ist das der Blick, mit dem du Niki de Saint Phalle betrachtest?

Anita Ferraris: Ja, ihr war als doppelte Skorpionin (Sonne und AC in Skorpion)  ein starker Hang zum Drama eigen, und den hat sie maßgeblich in ihrer Kunst, in ihren Werken, ausgelebt. Die Liebe zur Kunst, die Notwendigkeit künstlerisch tätig zu sein, bestimmte vollkommen ihr Leben. Sie hat sich als Künstlerin wie eine Amazone, eine Kämpferin, leidenschaftlich mit Haut und Haar engagiert. „Ich wurde Künstlerin, weil es für mich keine Alternative gab“, hat sie gesagt. Und das erkennt man in ihrem Werk. Zudem steht ihr Pluto im 9. Haus. Das heißt, sie war getrieben, den Lebenssinn bis ins Letzte ergründen zu wollen. Und wo hat sie ihn gesucht? Natürlich in Abgründen und ekstatischen Rauschsituationen. Daran ist sie aber auch gereift, um letztlich zu einer matriarchalen Einstellung zu gelangen.

DAV: Was fasziniert dich daran so sehr, dass du diese Frau und ihr Werk zum Thema eines Vortrags auf einem Astrologen-Kongress machst?

Anita Ferraris: Neben der Bewunderung für ihr Werk und ihren Weg finde ich mich in vielem wieder, was sie gelebt hat. Astrologisch gesehen verbindet uns ein gemeinsamer Skorpion Aszendent und der Pluto im neunten Haus. Mir ist der Hang zum Drama ebenfalls vertraut, aber auch die Kämpfernatur, die nach schwersten Lebenskrisen immer wieder neu Mut schöpft.

DAV: Kannst du ein konkretes Beispiel nennen, wie sich dieser Hang zum Drama konkret geäußert hat?

Anita Ferraris: Besonders fasziniert hat mich schon immer, wie sie mit knapp 46 Jahren nach einer tiefen Depression ihren Selbstmord in vollendeter Schönheit als Kunstwerk inszenieren  wollte. Sie hatte sich in einen Gletscher verliebt und beschlossen, auf ihm selig einzuschlafen und zu sterben. Auf eine solche Idee muss man erst mal kommen! Sie hatte alles genau geplant bis hin zur Kleidung. Damit ist sie dann allerdings grandios gescheitert: Zwei Tage, bevor sie sich wunderschön angezogen mit Champagner und Kaviar plus Schlaftabletten dahin aufmachen wollte, bekam sie eine Lungenentzündung und landete in Bern im Krankenhaus. Welch eine Ironie des Schicksals!

DAV: Aber sie hat sich auch darüber hinaus im Leben nie geschont.

Anita Ferraris: Das stimmt, und ich würde sogar noch weiter gehen, sie hat sich selbst zerstört, langsam und qualvoll. Niki ist letztlich an dem Material, das sie am meisten liebte, gestorben: Polyester! Sie war immer krank und hat sich dennoch in der Tat nie geschont. Teilweise hat sie mit einer Sauerstoffflasche gearbeitet, weil sie keine Luft bekam.

Das berührt mich sehr, denn ich hatte in meinem Leben ebenfalls stark autoaggressive und selbstzerstörerische Phasen. Ich habe zum Beispiel als bildende Künstlerin 1971-73 mit Nitroverdünner gearbeitet. Dabei kommt man in eine Art Rauschzustand wie beim sniffen. Und gleichzeitig bekommt man keine Luft mehr; ein extremer Zustand.

DAV: Du siehst offenbar viele Parallelen zwischen Niki und dir.

Anita Ferraris: Oh ja, Niki hat für die Kunst ihren Mann und ihre Kinder verlassen. Ich habe der Kunst und dem Theater 30 Jahre lang alles geopfert, habe drei Heiratsanträge ausgeschlagen, war fast mittellos, aber glücklich. Gemeinsam ist uns auch eine heftig belastete Beziehung zur Mutter mit der Sehnsucht geliebt zu werden, die sich nie erfüllt hat. – Na ja, das konnte ich dank langer Therapieerfahrungen überwinden. Niki hat versucht, sich mit Kunst zu therapieren, was ich auch tat. Ich habe nur festgestellt, das klappt nicht so ganz.

Nikis erste Werke waren von Gewalt, Verzweiflung, Zorn und Blut durchdrungen. Viele meiner Theaterstücke ebenfalls. Ich musste meine Wut herausschreien auf der Bühne. Ich habe zum Beispiel „Penthesilea“ von Heinrich von Kleist in Köln inszeniert, wo eine gedemütigte Frau, eine stolze Amazonenkönigin und Kämpferin, ihren Geliebten mit ihren Hunden gemeinsam in Stücke reißt. Und ich habe Shakespeares „Macbeth“ in Frankfurt inszeniert. Sehr viel blutiger geht’s nicht…

DAV: Aber es blieb ja nicht nur bei der Tragik und Dramatik. Du nennst deinen Vortrag schließlich „Die Metamorphose der Niki de Saint Phalle“. Also gab es auch Brüche und Neuanfänge. Vielleicht weniger dramatische?

Anita Ferraris: In ihrer ersten künstlerischen Phase war sie bekannt für ihre Schießbilder. Sie musste sich frei schießen von der erlittenen Gewalt in der Vergangenheit, hauptsächlich vom erlittenen Trauma durch den Missbrauch durch den Vater. Dabei hat sie ihren Mars sehr bewusst ausgelebt und das offen kommuniziert: „1961 schoss ich gegen Daddy, gegen alle Männer, gegen alle, gegen die Gesellschaft, gegen mich selbst. Ich wollte meinem Vater verzeihen, dass er mich, als ich elf Jahre alt war, zu seiner Geliebten zu machen versuchte. Ich fand nur Wut und leidenschaftlichen Hass in meinem Herzen.“

In einer tiefen Metamorphose hat sie sich und ihre Kunst gewandelt und die berühmten „Nanas“ kreiert, die bunten Riesinnen und weiblichen Gottheiten, mit denen sie ihren Venus-Anteil und in gewisser Weise auch eine Versöhnung ausgedrückt hat: Schönes, Buntes, Lebensfrohes, Sinnenfreudiges, das aber durchaus kraftvoll und monumental ist und damit auch mächtig. Aus dieser Energie heraus hat sie auch den berühmten Tarotgarten in der Toskana geschaffen.

Zum Ende ihres Lebens waren Totempfähle die wichtigsten Objekte ihrer Kunst. Damit war die Hinwendung zur Spiritualität vollzogen, und darin hat sie ihren Frieden gefunden. Meine wichtigste Metamorphose bestand ebenfalls in einer Hinwendung zur Spiritualität und darin, dass ich mit 57 Jahren Therapeutin und Astrologin geworden bin.

DAV: Wann bist du den Werken von Niki de Saint Phalle erstmals begegnet?

Anita Ferraris: Das war während meines Studiums der Kunstgeschichte, das ich von 1967-72 in Zürich und Basel absolviert habe. Ich sah natürlich mehrere Ausstellungen und war von den Bräuten und später von den Schießaktionen absolut fasziniert.

DAV: Was ist es, das du an ihr und ihrer Kunst besonders hervorheben möchtest?

Anita Ferraris: Da gibt es mehr als nur einen Aspekt. Zum einen ist da die Beschäftigung mit der Weiblichkeit und mit den weiblichen Rollen. Dazu kommt die Lebendigkeit, die Vielfalt der Lebensphasen und künstlerischen Ausdrucksphasen, vor allem den Mut und die Kraft sich selbst immer wieder neu zu erfinden – besonders die Wandlung von den Schießaktionen zu den Nanas, die spielerisch die Welt erobern.

DAV: Du hast den Tarotgarten schon erwähnt, der zeigt, welch eine große Bedeutung die Symbolik des Tarots für sie und ihre Werke hatte. Weißt du, welche Rolle die Astrologie für sie gespielt hat?

Anita Ferraris: Ja, sie liebte die Astrologie und hat sich in Paris 1962 ein Horoskop erstellen lassen. Sie hat sich selbst sehr mit ihrem Skorpion-Zeichen identifiziert.

DAV: Du hast dich sicher intensiv mit ihrem Horoskop beschäftigt. Was verrät das über sie?

Anita Ferraris: Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, damit die Zuhörer noch motiviert sind, zu meinem Vortrag zu kommen, aber ich möchte eine Konstellation besonders hervorheben, die Mars-Mond Opposition im T-Quadrat auf den AC Skorpion in Konjunktion zur Sonne. Dieses Aspektbild wirkt auf mich wie eine mit Pfeil und Bogen schießende Amazone. Aber das Ziel ist der AC und die Sonne, also die persönlichsten Punkte. Das heißt, das Ziel ist sie selbst. Allein diese Aspektfigur verrät ganz viel über sie.

DAV: Herzlichen Dank für die große Offenheit, mit der du nicht nur eine bedeutende Künstlerin beschreibst, sondern auch dich selbst einbeziehst. Ich bin sehr gespannt, was du uns auf dem Kongress noch alles über Niki de Saint Phalle und ihre Fähigkeit, sich immer wieder neu zu kreieren, erzählen wirst.

Das Interview führte Klemens Ludwig.