Was ist wahr?
Unsere eigene Sichtweise ist immer relativ.
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An Wilhelmine von Zenge, 22. März 1801
“Vor kurzem ward ich mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt – und Dir muss ich jetzt daraus einen
Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, dass er Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird, als mich…
Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu
ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört.
So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das,
was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich.
Seit diese Überzeugung, nämlich, dass hienieden keine Wahrheit zu finden ist, vor meine Seele trat, habe ich nicht wieder ein Buch angerührt. Ich bin untätig in meinem Zimmer umhergegangen, ich habe mich an das offne Fenster gesetzt, ich bin hinausgelaufen ins Freie,
eine innerliche Unruhe trieb mich zuletzt in Tabagien und Kaffeehäuser, ich habe Schauspiele und Konzerte besucht, um mich zu zerstreuen,
und dennoch war der einzige Gedanke, den meine Seele in diesem äußeren Tumulte mit glühender Angst bearbeitete, immer nur dieser: Mein
einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken. Und ich habe nun keines mehr.”
„Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war“
Heinrich von Kleist (1777 – 1811), Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist, deutscher Dramatiker, Novellist, Bühnenschriftsteller und Erzähler